
Hochsensible Kinder erleben die Welt intensiver und haben deswegen oft etwas andere Bedürfnisse als Kinder mit einem normalen Nervensystem. Während manche Kinder mehr Selbstbestimmung brauchen, machen sich andere mit klaren Regeln deutlich weniger Sorgen.
Jedes Kind ist auf seine Art besonders und empfindet das Leben auf seine einzigartige Weise. Doch zehn bis 20 Prozent der Kinder kommen mit einem Nervensystem auf die Welt, das sie besonders sensibel macht. Als Hochsensible haben sie eine höhere Anzahl an Neurotransmitter im Gehirn, die als Botenstoffe Informationen von Nervenzellen an andere Zellen weiterleiten. Neurotypische Personen haben einen Filter, der unwichtige Informationen nicht weiterleitet, doch bei hochsensiblen Menschen scheint dieser zu fehlen und sie fühlen deutlich mehr und intensiver.
Dieser Unterschied zeigt sich bereits in sehr jungen Jahren. Hochsensible Kinder haben oft grössere Schwierigkeiten, mit Veränderungen zurechtzukommen oder mit anderen Kindern zu interagieren. Auch sind sie schnell von Reizen wie lauter Musik, starken Gerüchen und kratziger oder enganliegender Kleidung überwältigt.
Starke Sonnenseite
Jedoch ist Hochsensibilität keineswegs als Krankheitsbild zu sehen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Persönlichkeitsmerkmal, oder aus wissenschaftlich-psychologischer Sicht, um eine Temperamentseigenschaft, die einige angeborene Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen beschreibt und sich durchaus als positiv werten lässt. «Hochsensibilität kommt mit zahlreichen Stärken wie zum Beispiel einem ausgeprägten Empathievermögen und Verantwortungsbewusstsein daher», sagt Psychotherapeut Simon Gautschy, der in seiner Praxis in Aarau unter anderem einen Schwerpunkt auf die Beratung von hochsensiblen Personen legt.
Hochsensible Menschen zeichnen sich durch eine hohe Aufmerksamkeit aus und handeln in der Regel selbst in jungen Jahren überraschend bedacht. «Sie nehmen subtile Veränderungen in der Umgebung sowie Details und Signale in zwischenmenschlichen Interaktionen sehr stark wahr», sagt Gautschy. Sie tendierten dazu, intensiver darüber nachzudenken, was sie erlebt und erfahren haben. Entsprechend scheinen hochsensible Kinder oftmals reifer als ihre Gleichaltrigen.
Hochsensibilität kommt in zahlreichen Schattierungen und zeigt sich bei jedem Menschen anders. Wenn die Eltern die Bedürfnisse, Stärken und Schwächen ihrer hochsensiblen Kinder erkennen, können sie ihnen helfen, einen möglichst ausgeglichenen Alltag zu gestalten. Dazu gehört auch, dass die Kinder ihre eigenen Bedürfnisse erkennen und lernen, mit diesen umzugehen.
Herausforderungen und Hilfsmittel
«Oft sind hochsensible Kinder gar nicht bereit, so viele Informationen zu verarbeiten, wie sie registrieren», so Gautschy. Aufgrund der tiefen Verarbeitung der vielen Reize können diese nicht schnell genug prozessiert werden, sodass es zu einer Art Reizstau im Nervensystem kommt, der sich dann körperlich oder emotional entlädt. Dies zeigt sich zum Beispiel, indem ein Kind seinen Kopf in alle Richtungen dreht, um sich einen Überblick über seine Umgebung zu verschaffen, wild umherzappelt, scheinbar ohne klar ersichtlichen Grund wütend wird oder zu weinen anfängt.

Um solche Situationen für ihre Kinder einfacher zu machen und unnötigen Stress zu verhindern, können Eltern mehr Pausen für die Kleinen einplanen. Diese können je nach Aktivitäten und Tagesrhythmus unterschiedlich oft, wenn nicht gar spontan, eingelegt werden. Das Pause machen kann verschieden gestaltet werden, zum Beispiel kann es Ausmalen und Zeichnen bedeuten, ein Bilderbuch durchblättern oder sich einfach mal allein mit einem Spielzeug beschäftigen. Mit diesen ruhigen Beschäftigungen können hochsensible Kinder Energie tanken und mit neuen Kräften wieder mit anderen spielen oder das Umfeld wechseln.
Überstimuliert im Kindergarten
Anspruchsvoller wird es, wenn ein hochsensibles Kind plötzlich den ganzen Tag mit einer Gruppe von Gleichaltrigen verbringen muss. Für viele hochsensible Kinder stellt der Kindergarten eine grosse Herausforderung dar und bedarf einer langen Eingewöhnungsphase. Aufgrund der Reizüberflutung in einem fremden Umfeld mit neuen Gerüchen und Regeln sowie der Gesellschaft von anderen Kindern zeigen sich viele hochsensible Kinder zuerst von ihrer schüchternen Seite. Doch mit der Zeit finden sie in der Regel Anschluss bei den anderen ruhigen Kindern und gewöhnen sich an ihren neuen Alltag.
«Kinder in Gruppen von Gleichaltrigen zu stecken, ist selten eine gute Idee und wurde weder von unseren Vorfahren gepflegt, noch wird sie heute von naturverbunden lebenden Gemeinschaften praktiziert», sagt Gautschy. So lernen Kinder und Menschen allgemein am besten in altersheterogenen, durchmischten Gruppen, wo von Älteren und Erfahreneren Neues gelernt und gleichzeitig Jüngeren beigebracht werden kann. Altershomogene Gruppen fördern kompetitives Verhalten und Hahnenkämpfe: «Vor diesem Hintergrund ist es totaler Quatsch, wie unser Bildungssystem in dieser Hinsicht organisiert ist», erklärt der Psychologe. «Vor allem sensiblere Kinder reagieren gesund und zurecht mit Widerstand und Protest oder Leiden.»

Obwohl der Kindergarten viele Herausforderungen für hochsensible Kinder mit sich bringt, umfasst er auch einige Elemente, die für sie hilfreich sind. Dazu gehören Rituale, die sanfte Übergänge schaffen und so den Tag regeln. Sie lösen ein Gefühl von Wiedererkennung aus und helfen dabei, sich mit Veränderungen abzufinden. Auch visuelle oder akustische Signale eignen sich gut, um einen Übergang wie zum Beispiel vom Spielen zum Aufräumen der Spielsachen einzuleiten. Solche Elemente können Eltern zu Hause einbauen und sich sowie dem Kind einen harmonischeren Alltag ermöglichen.
Eigensinnig und überlegt
«Hochsensibilität zeigt sich bei Kindern verschieden, und während manche gern folgen, können andere sehr eigensinnig sein und widerstreben Regeln und Anweisungen», sagt Gautschy. In diesem Fall ist es wichtig, mit dem Kind auf Augenhöhe zu sprechen. Oft hat es Mühe, ein Nein zu akzeptieren, weil es den Grund dahinter nicht versteht. «Viele hochsensible Kinder brauchen Eltern, welche die Botschaft übermitteln, dass sie die Verantwortung für die Sicherheit der Kinder übernehmen und so eine gesunde Hierarchie besteht», erklärt der Psychotherapeut. Manche hochsensiblen Kinder mögen es, wenn ihnen klare Grenzen gesetzt werden, weil es sie davon abhält, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie tun oder nicht tun sollen.
«Allgemein profitieren hochsensible Kinder von einer Mischung aus einer gleichzeitig sehr hohen Präsenz und Verfügbarkeit ihrer Bezugspersonen sowie sehr viel Autonomie, um nach ihrem Tempo und Rhythmus ihre Entwicklung selbstständig zu gestalten», so Gautschy. Das stellt für Eltern häufig eine grosse Herausforderung dar, da die Bedürfnisse ihres Kinds nach Nähe und Alleinsein sehr schnell wechseln können.

Eine andere Schwierigkeit kommt auf, wenn die ausgesprochen emphatischen Kinder die Tendenz zeigen, ihren Eltern helfen zu wollen. In solchen Fällen kann es sein, dass sie einen Teil der Verantwortung auf sich nehmen, selbst wenn sie nichts Konkretes für die Eltern tun. «Hochsensible Kinder fühlen die Emotionen und Sorgen der Eltern oft mit und machen sich so unnötig Druck, selbst wenn sie nichts bewirken oder mitbestimmen können», sagt Gautschy. In solchen Fällen kann es empfehlenswert sein, die Kinder bei kleinen, überschaubaren Entscheidungen miteinzubeziehen und sie zum Beispiel mitbestimmen zu lassen, was zum Mittagessen gekocht werden soll.
Tückische Vorstellungskraft
Ein weiteres Talent, das hochsensiblen Kindern manchmal einen Knüppel zwischen die Beine wirft, ist ihr ausgeprägtes Vorstellungsvermögen. «Kombiniert mit ihrer Stärke, tiefgründig nachzudenken, kreieren hochsensible Kinder sehr realitätsnahe Vorstellungen.» Wenn sie diese Vorstellungen nicht treffen können, folgt Enttäuschung von sich selbst und der Welt. Oder aber können die Kinder zu hohe Ansprüche an sich selbst haben, wenn ihnen zum Beispiel eine Aufgabe zugeteilt wird.
Dieser Perfektionismus kann jedoch mit einer Strategie minimiert werden: «Hochsensible Kinder und auch Erwachsene erzielen in der Regel die besten Ergebnisse, wenn sie sehr flexibel vorgehen dürfen», sagt der Coach. Wenn sie für sich selbst Zwischenziele und Arbeitszeiten bestimmen, können sie ihre Bedürfnisse bestens decken und möglichst ohne Druck vorankommen. «Wenn sie intrinsisch, also von innen heraus motiviert, handeln und sich dabei am besten auch künstlerisch ausdrücken und ihre Sozialkompetenzen erweitern können, arbeiten sie in der Regel gerne und ohne sich Druck zu machen.»